Messung der Herzratenvariabilität - oder wie funktioniert eigentlich unser vegetatives System und was hat das mit „Stress“ zu tun?
Der Mensch ist wahrhaftig ein Wunderwerk.
Er „funktioniert“ durch das unendlich filigrane und komplexe Zusammenspiel einer unvorstellbar großer Anzahl von einzelnen Vorgängen, die alle untereinander und miteinander verzahnt und verwoben sind.
Sich nur einen Aspekt davon herauszupicken und daran womöglich ein ganzes diagnostisches oder therapeutisches Maßnahmenpaket festzumachen, wird der Komplexität nicht im Geringsten gerecht. …Oder festzustellen, dass es für eine Symptomatik keine Ursache gibt, sie also auch nicht real sein kann - das ist ungefähr so, wie wenn man durch ein Schlüsselloch in einen Raum schaut und konstatiert, dass der Raum leer ist - nur weil man in dem kleinen Ausschnitt durch das Schlüsselloch nichts sieht…
Eine höchst ausgeklügelte Funktion unseres Körpers ist das vegetative oder autonome Nervensystem - das so alt ist, wie es Lebewesen gibt. Autonom heißt, es arbeitet ohne unser aktives Zutun, ohne unsere bewusste Steuerung.
Zum Beispiel funktionieren unsere Atmung, unsere Verdauung, Herztätigkeit und Blutdruck - zum Glück - völlig eigenständig. Und jeder kennt die körperlichen Reaktionen wenn „Gefahr“ droht (z.B. eine Prüfung. Oder eine gefährliche Situation beim Autofahren): der Herzschlag beschleunigt sich, man bekommt einen roten Kopf, fängt vielleicht an zu schwitzen, der Darm meldet sich mit einem dringenden Bedürfnis. Und vielleicht stockt auch der Atem…
Die Funktionsweise des vegetativen Nervensystems hat sich entwicklungsgeschichtlich über einen sehr langen Zeitraum entwickelt. Sie „dient dem Zweck“, unsere Nahrungssuche, die Aufzucht von Nachkommen - damit eigentlich unser Überleben zu sichern.
Aufgabe dieses Systems ist es, unentwegt die Umgebung danach „abzuscannen“, ob alles sicher ist - oder ob Gefahr droht. Wichtig: das alles geschieht weit unterhalb des „Radars“ der bewussten Wahrnehmung. Bei „Gefahr“ leitet es selbstständig - autonom, ohne unser bewusstes Zutun - entsprechende „Schutzmaßnahmen“ ein.
Z.B. das Sich-tot-stellen - wie bei den Reptilien. Oder Weglaufen - egal wohin. Oder Kampf. Oder Verteidigung. (Für alle Reaktionen können die bei den Menschen vergleichbaren Reaktionsmuster gerade gut studiert werden).
Grundsätzlich sind alle diese Reaktionen nur für eine kurze Dauer gedacht. Der Körper gibt in dieser Situation alles, schließlich geht es auch um alles, nämlich um das Überleben.
Er fährt alle „not-wendigen“ Strukturen zu einer Höchstleistung hoch - auf Kosten der „weniger wichtigen“ wie Verdauung, Fortpflanzung, Immunsystem.
Normalerweise hält eine solche Stress-Situation nicht lange an. Dem Feind ist man entweder entkommen, sprich die Gefahr vorbei, oder man hat sie nicht überlebt.
Wenn die „Gefahrenlage“ anhält, bleiben alle Maßnahmen, die eigentlich für kurzfristige Regulierung gedacht waren, bestehen, mit langfristig verheerenden Auswirkungen für den ganzen Menschen: Blutdruck- und Pulsfrequenzanstieg, veränderte Atmung, gestörte Verdauungsfunktion, geschwächtes Immunsystem, vermehrte Ausschüttung von Stress-Hormonen.
Es ist heute ganz klar, dass „Stress“ der Hauptauslöser und Unterhalter für chronische Krankheiten ist! Wohlgemerkt: die Reaktionen laufen größtenteils unterhalb des Radars ab, nur die körperlichen Auswirkungen sind dann irgendwann spürbar…
(Siehe auch National Geographic: „Stress, portrait of a killer“ : https://youtu.be/D_OvJE_7e4k)
Noch ein kleiner Ausflug: der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil des vegetativen Nervensystems ist der vordere Vagus-Ast, der auch als „soziales Nervensystem“ bezeichnet wird. Er ist, soweit bis jetzt bekannt*, nur bei uns Menschen vorhanden (wurde von Stephen Porges 1994 erstmals beschrieben - insofern kennen ihn viele noch gar nicht!)
* ich könnte mir vorstellen, dass auch Delphine und Wale, die ja sehr hochentwickelte soziale Lebewesen sind, über ein ähnliches System verfügen
Dieser Vagus-Anteil innerviert vor allem die Muskeln des Gesichts und steuert dadurch unsere Mimik, beeinflusst den Ausschnitt den wir sehen, wie gut wir „hinhören“, ist über Steuerung von kleinen Muskeln beteiligt an der Modulierung der Stimme.
Er versorgt außerdem die Nackenmuskulatur, hat Einfluss auf Herztätigkeit und Atmung.
Diese Informationen, aus der Mimik und der Stimmlage der Menschen, interpretiert das System und „erkennt“ (immer noch unterhalb des Radars): die Situation ist gefährlich, ich muss auf der Hut sein - oder: sie ist sicher, ich kann mich entspannen.
Nur in letzterem Fall, in sicherem Umfeld, funktioniert unser Immunsystem, können wir kreativ sein und unser Potential entfalten, fühlen wir uns wohl. Ich glaube, das kann jeder bestätigen!
Was geschieht bei der Herzratenvariabilitätsmessung?
Um die Bedeutung der HRV zu verstehen, ist es sinnvoll, sich ein wenig mit der Funktionsweise des vegetativen Nervensystems zu beschäftigen…
Die meisten Menschen denken, der Puls sei besonders gut wenn er absolut regelmäßig ist. Tatsächlich unterliegt er aber unentwegt mehr oder weniger unmerklichen Schwankungen, mit denen das vegetative System sich Augenblick für Augenblick an die Erfordernisse der momentanen Situation anpasst. Ohne dass wir es wahrnehmen, da dies alles ja „unter dem Radar“ stattfindet.
Über die Aufzeichnung von Ekg, Pulswelle und Atmung - alles Funktionen, die wie beschrieben nicht der bewussten Steuerung unterliegen, sondern durch das autonome Nervensystem reguliert werden - lässt sich erkennen, wie gut oder eingeschränkt reaktionsfähig „das System“ ist, mit anderen Worten wie sehr der Mensch unter Stress steht.
Normalerweise reguliert sich das System sehr gut selbst - und fährt bei Entspannung deutlich herunter, sodass alle Systeme sich wieder erholen, regenerieren können. Ist das nicht der Fall, dann geht es ggf. darum herauszufinden was den Stress von außen (oder von innen) verursacht - und wenn möglich abzustellen. Oder herauszufinden was man selbst tun kann um „sich herunterzufahren“ und aus der „Stress-Falle“ herauszukommen…
Bei der Untersuchung selbst wird dies über ein Bio-Feedback erfahrbar gemacht. Dieses Bio-Feedback kann man auch zuhause üben, z.B. mit einem Qiu.
Was es dafür NICHT gibt: eine Pille, die uns aus dieser „Stress-Falle“ heraus holt…
Jede Tablette beeinflusst lediglich den messbar veränderten Parameter wie z.B. den Blutdruck, die Pulsfrequenz - aber die zugrundeliegenden Mechanismen bleiben bestehen und wirken weiter…. So wie wenn bei einem Einbruch die Warnlampe einfach ausgeschaltet… und so dem Einbrecher ungestört das Feld überlassen wird…
Schon in einem alten chinesischen Lehrbuch im 3. Jh. n. Chr. beschrieb der Arzt Wang Shu-Ho (180–270): „wenn der Herzschlag des Patienten so regelmäßig wie das Klopfen des Spechts oder das Tröpfeln des Regens auf dem Dach wird, wird der Patient innerhalb von vier Tagen sterben.“
Umgekehrt heißt das: wir sind so jung wie die Anpassungsfähigkeit unseres Organismus… das gilt für ALLE Lebensbereiche… und wir können sie beeinflussen!
Auch in der Schulmedizin ist dieser Sachverhalt schon lange bekannt - findet aber kaum Beachtung… wie gesagt, es gibt halt kein Medikament dafür…